Die Freiheit ist eine Funzel

Der Freiheit ihren Sinn, vielfach verwoben, unter klagendem Geraunze, das ist unsereins nur recht und billig, liefert Zündstoff für Debatten, die am schönsten wohl auf Kanapee und Läufer zu genießen sind, obwohl doch nur eines wirklich auf den Teppich kommt: die Lust zu fabulieren. Die Frage nach der Freiheit ist so alt wie die Menschheit selbst und erst kürzlich endete ein sonst eher mittelmäßiger Science-Fiction-Streifen mit der Maxime, der Wunsch nach Freiheit sei einer der stärksten überhaupt, ein strahlendes Leuchten inmitten eines riesigen, dunklen Ozeans.

Es gäbe kaum so viele Diskurse und Abhandlungen, wenn es sich um etwas Eindeutiges handelte, um einen Begriff, der allen auf simple Art erklärt werden könnte, damit eine gemeinsame Auffassung die Basis der Reflexion darstellte. Die Vorstellungen reichen indes vom freien Athener der Antike über die Freiheit, den christlichen Glauben zu verbreiten oder im Rahmen einer säkular überwachten Religionsfreiheit wieder zurechtzustutzen, über freie Berufs- und Partnerwahl bis hin zur Freiheit, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und das kratzt bestenfalls an der Oberfläche, denn so wie man gern witzelt, wenn drei Juristen fachsimpelten, kämen mindestens drei unterschiedliche Meinungen heraus, so verhält es sich ganz gewiss auch mit der Freiheit. Nicht nur, dass jeder Einzelne seine ganz persönliche Vorstellung davon hat, müssen wir uns mit politischen und gesellschaftlichen Freiheiten herumschlagen und fühlen uns spätestens in dem Moment bar aller Worte, wo wir erkennen, dass die unterschiedlichen Zivilisationen und Kulturen dieses Planeten in der Regel klar divergierende Auffassungen pflegen – da ist es schon eine Kunst, nicht den Anschluss zu verlieren. Sind demnach ein absoluter Freiheitsbegriff und dessen Akzeptanz in allen Kulturen inhärent miteinander unverträglich? Besteht überhaupt ein Anrecht auf einen absoluten Freiheitsbegriff?

Da hilft es kaum weiter, dass die – zumindest der abendländischen Welt vererbte – florentinussche Definition von einer natürlichen Möglichkeit ausgeht, all das zu tun, was nicht durch Gewalt oder Recht verhindert wird (woran ich bemerkenswert finde, wie früh in der Geschichte auf die Verbindung zur Gewalt verwiesen wurde!). Angesichts der zahlreichen Konflikte, in denen alles, was wir so unter Freiheit verstehen, unter Soldatenfüßen zertreten wird, befällt einen der Wunsch, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Schließlich will sie wiedergefunden werden, die Freiheit. Immerhin hält niemand sich für frei, wenn sein Land im wahrsten Sinne des Wortes verheert, wenn sein Heimatort von einer fremden oder der eigenen Armee überrannt wird, ganz im Gegenteil, die dermaßen geprüften Menschen empfinden ihr Dasein als unterdrückt und geknechtet, als gegeißelt und aufs Schärfste bedroht. Ein beträchtlicher Teil der Menschheit befindet sich demnach auf der Suche nach der verlorenen Freiheit und will sie wiedererlangen, so, wie sie einmal war. Woraus sich die nächste Frage ableitet: Suchen wir tatsächlich etwas Verlorenes oder hasten wir einer Schimäre nach? Auf welche Weise wurde Freiheit umrissen und überhaupt: Wurde sie jemals schlüssig definiert? Am meisten kommt der in einem westlich orientierten Land lebende Mensch heutzutage mit einer Art politischer Freiheit in Berührung, einer Freiheit, die unaufhörlich in den Nachrichtensendungen herumgeistert, mit Begriffen wie Demokratie und Zivilisation in Zusammenhang gebracht wird und an den Rändern sogar Religionen streift. Das ist wohlgemerkt jene Freiheit, die Franz Werfel in seinem armenischen Roman beschwor, die Ilse Aichinger Anlass zu größerer Hoffnung gab und der Karl Kraus eine ganz persönliche Fackel entzündete. Und plötzlich ist es die Freiheit (genau genommen: unsere Freiheit), welche die hochmoderne Armee der Vereinigten Staaten von Amerika verteidigt, wenn sie etwa den Menschen im Irak ihre Freiheit nimmt. Nein, stopp, zurück: Die USA brachten den Irakern, so sagte Präsident Bush, die Freiheit, indem sie das diktatorische Joch Saddams zerschlugen. Danach begann der Guerillakampf. Um die Freiheit, wie man so hört.

Hier konfligieren fundamental unterschiedliche Auffassungen von Freiheit. Die Konfrontation wurde längst aufgebauscht und inzwischen stehen zwei unerbittliche Mächte einander gegenüber: die amerikanische Gesinnung, den Bürgern der USA die totale wirtschaftliche Freiheit zu garantieren, indem man sich in aller Welt mehr oder minder gewaltsam der verfügbaren Ressourcen bedient, sowie der Anspruch der islamistischen Ideologie, der ganzen Welt eine bestimmte Lebensweise des Islam aufzuzwingen und diese frei von jedem Einfluss anderer Zivilisationen zu halten. Dass alle beide gleich auf die gesamte Welt abzielen, ist furchterregend und legt offen, dass es unmöglich einen absoluten Freiheitsbegriff geben kann.

Was also heißt Freiheit, genau genommen? Wer frei ist, ist von etwas frei. Aber jedes menschliche Leben ist in einen gewissen Rahmen eingebunden, in einen gesellschaftlichen, einen historischen, einen wirtschaftlichen und einen kulturellen. Völlige Freiheit würde bedeuten, dass einen nichts mehr tangierte, doch nicht einmal dann könnte ernsthaft von Freiheit gesprochen werden, denn diese bedeutet genauso, einen freien Zugang zu materiellen Grundlagen, Sicherheit, Geborgenheit und Bildung zu erhalten; so könnte gar die schillersche Schlangenlinie neu ausgelegt werden, nämlich als ein Hin und Her zwischen der Freiheit, die alles abstößt, und jener, die Ansprüche erhebt.

Politische Freiheit kennt in der Tat mannigfaltige Definitionen oder zumindest Versuche einer Definition, doch sollte uns bewusst bleiben, dass die Freiheit der französischen Revolution von den amerikanischen Bürgerrechten abweicht, dass die Freiheit eines muslimischen Bürgers eine strenge Unterwerfung unter das Wort Gottes voraussetzt, die neu erlangte (politische) Freiheit der asiatischen Turkvölker anscheinend auf ein Angliederungsrecht an die Türkei pocht und die chinesische Freiheit die – womöglich gewaltsame – Wiedereingliederung Taiwans für selbstverständlich erachtet. Und der im österreichischen Jubiläumsjahr 2005 quasi zum Kalauer degenerierende Ruf »Österreich ist frei!« katapultiert sich in einem Land, das quasi all seine Umstürze von oben empfangen hat, ins Ridiküle; noch dazu wurde diese Freiheit nach Beendigung der zehnjährigen Besatzungszeit durch die alliierten Mächte ausgerufen, während ein Jahrzehnt zuvor, zum Ende der Naziherrschaft, kein ähnlich markiger Spruch den Weg in die Geschichtsbücher fand. Infolgedessen scheint jedwede Apperzeption suspekt.

Natürlich bleibt uns unbenommen, die Ausformung und den Grad der politischen Freiheit mitzugestalten. Aber läuft das tatsächlich so? Angesichts der täglich erfahrbaren Unangreifbarkeit des politischen Establishments, dessen unausgesprochenen Konsenses, sich vom Bürger tunlichst nicht dreinreden zu lassen, stellt sich die Frage, was es überhaupt ausmacht, am politischen Leben in einer Weise teilzuhaben, die weder Freiräume erlaubt noch eine probate Mitwirkung zulässt. Sind wir etwa mental involviert? Bin ich es? Wieso quäle ich mich damit, der Freiheit auf den Grund zu gehen, warum halte ich mich für betroffen und tue innerlich dermaßen responsiv? Schließlich hat niemand mich danach gefragt und niemand wird es je tun. Lediglich mit einem vermag ich zu argumentieren, nämlich mit der Freiheit, mich zu Themen zu äußern, die mich bewegen.

Bleiben wir bei den Amerikanern. Die USA gelten in unserer Gesellschaft als der Inbegriff der Freiheit. Diese Einstellung hat historische Wurzeln, sie greift die sprichwörtlich unbegrenzten Möglichkeiten des neuen Kontinents auf und erinnert an die Flucht zahlreicher neu entstandener christlicher, aber doch gegenüber dem Dogma der Großkirchen abweichender Gruppierungen, die in Nordamerika ein neues Leben und das Recht auf ihren Glauben fanden, und eine Verfassung, die damals, vor über zweihundert Jahren, möglichst vielen gegensätzlichen Weltanschauungen Genüge tun wollte, besorgt den Rest. Was aber die Amerikaner wirklich unter Freiheit verstehen, ist zumeist gar nicht so einfach erklärbar; es hat nicht unbedingt mit Philosophie zu tun – der Durchschnittsamerikaner gibt sich sowieso keinerlei Mühe, eine Definition auszuformulieren oder gar nur nach einer Erläuterung zu forschen. Meine ganz persönliche Erfahrung mit dem Phänomen des amerikanischen Freiheitsgedankens basiert auf einer Empfindung, die ich zu jener Zeit erlebte, als ich mehrere Wochen in Nordkarolina verbrachte. Die Idee von der Freiheit kann tatsächlich keine bare Spinnerei sein; in den USA war sie für mich fühlbar – ich vermag es nicht anders zu erklären. Ein ungewöhnliches Gefühl liegt dort in der Luft, es muss mit den immensen Räumen und den fehlenden Zäunen zu tun haben: Man fühlt sich wirklich freier (obwohl permanent Polizeiwagen herumfahren und in der Mietwohnung zur Begrüßung ein Zettel auflag, der mich aufforderte, unbekannte Beobachter im Gelände am besten unverzüglich den Sicherheitskräften zu melden). Unmöglich ist es mir festzustellen, ob es die Äußerlichkeiten sind oder ob es an der offen zur Schau gestellten Mentalität der Amerikaner liegt, dass ein derartiges Gefühl sich ausbreitet. Wahrscheinlich trägt beides seinen Teil dazu bei. Jedenfalls glaube ich seither nachfühlen zu können, was Amerikaner meinen, wenn sie – auf ihre großspurige oder schwärmerische Art – von Freiheit reden. Dass ausgerechnet das Englische zwei unterschiedliche Wörter für Freiheit kennt, nämlich das germanische freedom und das romanische liberty, erhält dadurch gewissermaßen eine inhaltliche Rechtfertigung, die jedoch angesichts der militärisch geführten Ausbreitung des British Empire im Neunzehnten und der mit den bisher einzigen Atombombenabwürfen initiierten Führungsmachtrolle der USA im Zwanzigsten und begonnenen Einundzwanzigsten Jahrhundert eine durchaus ironische Note erhält.

Ein neutraler Schweizer, nämlich Friedrich Dürrenmatt, bezeichnete Freiheit als ein Regelwerk, das von der Macht (das heißt, von den Mächtigen) gesteuert wird, damit diese nicht mächtig erscheinen. Eine gnadenlose Instrumentalisierung des hehren Gedankens? Die Inszenierung einer Wirklichkeit, die im Grunde lediglich den Mächtigen dieser Welt dazu dient, ihre Herrschaft zu verschleiern? Die schalottenartigen Schichten der Wirklichkeit in Stanislaw Lems futurologischem Kongress fallen mir dazu ein. Nun, erwägen wir, mit welchen Mitteln die Vereinigten Staaten von Amerika das Wohlergehen ihrer Corporations durchboxen, auf welche Weise Briten und Franzosen im neunzehnten Jahrhundert die nordafrikanischen Völker der osmanischen Herrschaft entzogen und wie das antike Rom die nach innen hin tatsächlich wirksame pax romana gewährleistet hat, dann fällt es leicht, Dürrenmatt zuzustimmen. Dennoch behagen die Freiheitsvorstellungen der Denker, und ich bestehe darauf, der Politik jegliches Monopol zu entreißen.

Die New Yorker Freiheitsstatue wurde den USA von den Franzosen zur Hundertjahrfeier ihrer Unabhängigkeit geschenkt. Die durch sie verkörperte Liberté sollte, gespendet von den Kündern der Menschenrechte, jenem Land, das sich zum Inbegriff der (westlichen) Demokratie entwickeln sollte, den Pfad der Freiheit ausleuchten. Wie hell die Fackel in ihrer Hand Millionen Einwanderern auch erschienen sein mag, so finster wirkt sie oft in der heutigen Zeit, in der die vielfach propagierten Bürgerrechte mitunter zum reinen Papierschmuck verkommen. Die Freiheit ist eine Funzel und wen wundert es, dass Immigranten heutzutage mit dem Jumbo einreisen, hoch über den Wolken, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, die einsam verglimmende Flamme krampfhaft suchen zu müssen! Dieses Symbol steht keineswegs nur für ein bestimmtes Land, sondern für den ganzen Globus, für die Menschheit, die sich zwar in gegensätzlichen Ideologien und zumindest in ihrer Praxis intoleranten Religionen verzettelt, aber interessanterweise nach demselben Elixier dürstet.

Trotzdem ist die Freiheit kaum wiederzuerkennen, wenn sie von jemand anders in den Mund genommen wurde. Es wird daraus eine vielfältige, mit anderen Worten: Nicht eine einzige Freiheit beeinflusst menschliches Handeln, sondern deren viele. Speziell wo sie am selben Ort auftreten, sind manche Freiheiten höher zu bewerten als andere, manche Menschen freier als andere, auch wenn einem bei dieser Feststellung George Orwells Diktum in den Sinn kommt. Prioritäten setzen zählt zu den wichtigsten Notwendigkeiten des Lebens, und warum sollte es sich anders verhalten, wenn es um die Freiheit oder ihre unterschiedlichen Ausformungen geht? Dass Freiheit dort endet, wo sie die Freiheit anderer einschränkt, ist sowohl eine alte jüdische wie auch hinduistische und chinesische Sentenz, die obendrein zahlreiche Philosophen paraphrasierten. Ein Sinnspruch, der in gewisser Weise das Leben jeder Kultur prägt: indem er befolgt und indem bewusst gegen ihn verstoßen wird. So wunderbar dieser Anspruch auch klingt, führt er uns die Abgründigkeit des Gebotes deutlich vor Augen. Es kann gar nicht sein, dass Freiheit sich zu etwas Absolutem aufschwingt, denn zwangsläufig würden dadurch die Freiheiten anderer beschnitten. Tausende Seiten ethischer Überlegungen in zahlreichen Sprachen, entstanden im Laufe der Menschheitsgeschichte, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass wir eigentlich nichts Besseres haben, nichts Reduzierteres, nichts Einfacheres: Freiheit bedeutet, die Freiheit des andern genauso zu wahren wie die eigene.

Das kulturelle Umfeld prägt völlig verschiedenartige Freiheiten aus, und gesellschaftliche Unterschiede stehen dem in nichts nach. Wie ehrlich klingen doch die aristotelischen Reflexionen über Freie und Sklaven, und welch vergleichbare Zurückgezogenheit (ins Private) verraten die späteren kantischen Überlegungen! Die sozialen Unterschiede begleiten uns in der gesamten Historie, und marxsche Analysen vermitteln ein eher schauriges Bild von den Möglichkeiten des (einfachen) Menschen, sofern er nicht mit eigenen Händen – das heißt: mit Gewalt – nachhilft. Ergo landen wir neuerlich bei der Gewalt, der revolutionären nämlich, und allmählich drängt sich mir der Gedanke auf, Freiheit und Gewalt anastomosierten in einer dermaßen raffinierten Art und Weise, dass trotz des geradezu schockierten Aufhorchens Aufmerksamer die beiden nicht voneinander zu trennen sind.

Die gefühlsmäßige Ablehnung eines solchen Zusammenspiels gründet auf der verbreiteten Überzeugung, Freiheit hätte etwas mit dem Glück des Einzelnen zu tun. Umgekehrt gefragt: Wäre Glück ohne Freiheit überhaupt vorstellbar? Wie so oft, hängt dies davon ab, welche Bedeutung dem Freiheitsbegriff zugrunde liegt. Sprechen wir von einer Freiheit des Willens, durchaus im kantischen Sinne, dann meinen wir eine Freiheit des Individuums, des einzelnen Menschen. Eine durch und durch europäische Gesinnung, denn gerade diese Art von Freiheit wird etwa im Islam kaum geschätzt, weil der Gemeinschaft, der muslimischen Umma, ein viel größeres Gewicht zukommt. Und eine völlige Ablehnung erfährt die Freiheit des Individuums in daoistischen und konfuzianischen Überlegungen. Beide Kulturkreise schwangen sich zu zivilisatorischen Hochleistungen auf und kultivierten das dem europäischen Freiheitsbegriff widersprechende Gemeinschaftsprinzip auf ihre Art. Dass allerdings in China Daoismus, Konfuzianismus und, als Drittes, der Buddhismus friedlich und einander befruchtend über die Jahrtausende hin koexistierten, gilt als eine Wurzel des chinesischen Strebens nach Harmonie nicht nur in zwischenmenschlichen, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Beziehungen. Das Nebeneinander der drei Lehren, die nach einem chinesischen Sprichwort eine einzige Familie bilden, kennzeichnet ebenfalls eine Freiheit, nämlich jene, sich nicht dem Diktat einer einzigen, alles andere verdrängenden Weltanschauung zu beugen. Dass der daraus resultierende Großmut und die nachweislich entstandene Toleranz nicht nur der Harmonie überaus förderlich sind, sondern zweifelsohne ebenso die Basis zum menschlichen Glück darstellen können, beweist die ostasiatische Geschichte. Ob nun Glück ohne Freiheit vorstellbar wäre, scheint mir als Frage obsolet, denn lediglich die Betrachtungsweise entscheidet, wie wir das Gefragte beantworten.

Allmählich gewinnt die Verwirrung an Raum, eine Sprachverwirrung sondergleichen, die indes Essenzielles betrifft. Wieder und wieder gerate ich in den Strudel des Fragens, halte inne, um nach etwas Begreifbarem zu suchen, um etwas Augenfälliges zu eruieren. Was sollen wir unter Freiheit verstehen? Was bedeutet dieses schlüpfrige, wabernde Dogma der abendländischen Philosophie, der schimärische Umriss einer Konzeption, die in manch anderem Kulturkreis geradezu als Bedrohung des dort entwickelten Gemeinschaftsgedankens empfunden wird? Habe ich den Kern der Sache gänzlich verfehlt, wenn ich diese dichotomen Auffassungen keineswegs als antinomisch, sondern als komplementär empfinde, als zwei Ausformungen des menschlichen Geistes, die zwar auf den ersten Blick miteinander verfeindet sind, doch bei genauerem Hinsehen auch Elemente des jeweils anderen besitzen? Wenn ich meine, dass jedes das andere begründen, stützen und stärken kann? Abgesehen davon, ob es überhaupt legitim ist, Freiheit und Individualismus gleichzusetzen (was oftmals getan wird, speziell, wenn es darum geht, die Freiheit im Kleinen zu betrachten; indes umfasst die Freiheit im Großen auch eine Freiheit von und für Gemeinschaften), ist die internationale Politik wohl der beste Beweis dafür, dass alle Seiten dem Freiheitsbegriff in ihrer Rhetorik eine eminente Rolle zumessen; und das zweite Beispiel, wenngleich in ihrem Anspruch deutlich dramatischer, ist die Religion.

Vielleicht wird Freiheit verständlicher, wenn wir den Weg des Öffentlichen verlassen und uns in einen privateren Bereich begeben, in jenen des Arbeitslebens und der persönlichen Beziehungen. Schließlich beschreibt die okzidentale Philosophie die Freiheit des Willens, einen Zustand, der bar jeder Unfreiheit ist (obwohl gewisse ethische Regeln bereits in diesen Willen übernommen wurden, damit das Modell funktioniert) und quasi zu einem Ausstattungsmerkmal des Individuums geriet. Ob das platonische Sein des Guten oder die spinozaische Abwesenheit von Zwang – es ist stets der Mensch, dessen Ego in einem solchen Gedankengebäude profitiert.

Verglichen mit früheren Jahrhunderten genießen wir heute eine beachtliche Anzahl von Rechten, vielfältige Möglichkeiten auf den Gebieten der Ausbildung und der Berufswahl. So scheint die Freiheit, deren Licht wir eben verschwinden sahen und die wir verloren glaubten, geradewegs auf einem Siegeszug durch unser Privatleben. Den Glauben (oder Nicht-Glauben) selbst aussuchen, auf die eigenen Vorlieben hören und allein zu entscheiden, welche beruflichen Aufgaben wahrgenommen werden, befreite tatsächlich ungemein – nach Jahrhunderten der Unterdrückung durch Kirche, Familienpatriarchat und zünftische Tradition. Aber lässt sich wahrlich mit reinem Gewissen von einer – körperlichen und geistigen – Ungebundenheit sprechen? Zumindest die Verantwortung gegenüber der Familie, gegenüber der Gesellschaft und gegenüber dem Staat fällt sozusagen ins Reich der Restriktionen und der Zwänge, und das widerspricht wenigstens einzelnen der philosophischen Erklärungsversuche zur Freiheit. Die prekäre Wirtschaftslage und die globalen, ungezügelt liberalistischen Rahmenbedingungen am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts lassen die meisten Erwerbstätigen Posten annehmen, die bei gleichem oder sogar geringerem Einkommen mehr und mehr Zeitaufwand, Verantwortung und Druck mit sich bringen, eine Belastung, der man wahrscheinlich nicht gewachsen ist (obwohl manche die Bezeichnung »Karriere« strapazieren). Beängstigende Verpflichtungen einzugehen, einfach weil sich die unverdrossen steigenden Wohnungs- und Lebenshaltungskosten nicht mehr anders decken lassen, macht uns zu Getriebenen. Ist das noch Freiheit? Haben wir denn die Freiheit, Nein zu sagen, aus dem ganzen Zirkus auszusteigen und sich in die Arbeitslosigkeit zu begeben? Ein alternativer Job ist eher unwahrscheinlich, weil er dieselbe Misere in sich birgt oder unter Umständen überhaupt nicht verfügbar ist.

Ohne Zweifel haben wir mit schreienden Unfreiheiten zu tun, obwohl doch einzuräumen bleibt, dass jeder ein Mindestmaß an freier Entscheidung besitzt und die Gelegenheit wahrnehmen kann, sich unter mehreren möglichen Varianten für eine bestimmte zu entschließen, eine Priorität zu setzen, die vielleicht nicht immer die richtige ist, dafür aber dem Individuum eine gewisse Selbstverantwortung überlässt. Natürlich könnte man aus dem ökonomischen Kreislauf von Druck und Gegendruck, aus dieser Spirale des Ausgepresst-Werdens aussteigen, sich in ein fernes Land zurückziehen und unter völlig neuen Prämissen von vorne beginnen. Dafür ist jedoch ein Preis zu bezahlen: der Verlust des bisherigen Lebens und bisheriger Sicherheit, eventuell der Verlust der Familie und des Freundeskreises, ganz sicher aber der Verlust einer bisher klaren Position innerhalb einer mehr oder weniger bekannten Gesellschaftsstruktur. Dort wo der Druck der Äußerlichkeiten so hoch wird, dass der Einzelne kaum mehr zu widerstehen vermag und in eine fremdbestimmte Marschrichtung gezwungen wird, blüht – mangels echter Bereitschaft, den Absprung zu wagen – die Verinnerlichung auf, eine Flucht vor der äußeren Wirklichkeit ins geheime Innere, das, solange Thinkpol romanesk bleibt, niemand nachhaltig und lückenlos zu kontrollieren vermag. Folglich nimmt es nicht wunder, dass Leitfäden zur Erreichung der inneren Freiheit wieder Hochkonjunktur haben.

Denn zugegeben, nicht einmal in privaten Beziehungen sind wir vor Einschränkungen gefeit. Während die Liebe als relativ neue Errungenschaft der Zivilisation firmiert, erhält die Freude über so etwas wie freie Partnerwahl einen gehörigen Dämpfer, wenn Nachrichtensprecher von türkischen Zwangsehen mitten in Deutschland berichten, gesellschaftliche Barrieren immer noch sehr häufig atemberaubende Höhen erklettern und sogar die Reichen dieser Welt viel öfter so genannte Vernunftehen schließen, als Regenbogenpresse und Heftchenromane uns vorgaukeln. Zudem ortet unvoreingenommene Beobachtung einen rücksichtslosen Ausscheidungskampf, der sich auf der Ebene der Macht, des Ansehens und des Geldes abspielt; die Humanethnologie erklärt dieses Verhalten mit biologischen Grundregeln, die längst in die menschlichen Gene eingebrannt sind und von dort aus eine wahrhaft betäubende Tragödie inszenieren. Wenn sowieso die Chemie zwischen zwei Partnern stimmen muss, kann von freier Entscheidung keine Rede mehr sein, sondern eher von einem Delegieren an vegetative Instanzen. Vollends übel wurde mir bei der Lektüre eines Buches, das einen regelrechten Krieg der Spermien beschreibt, welcher seit Jahrmillionen für die (so genannte) natürliche Auslese in der Weiterentwicklung des Menschengeschlechtes verantwortlich zeichnet.

Allenfalls kippe ich in eine Position zurück, die der Freiheit das Etikett einer Illusion verpasst. Mit erschreckender Konsequenz legte uns bereits Franz Kafka eine solche Erkenntnis in seinem Roman Der Prozess dar, geschrieben vor einhundert Jahren. Überhaupt fällt auf, dass vieles in der Debatte um die Freiheit zur Kunst gerät. Ob sie hinter Kerkerfenstern, im Exil oder wohl behütet in Sicherheit entsteht, sie gestaltet einen Traum, der die Menschheit seit Anbeginn nicht mehr loslässt, und fordert für sich selber das, worüber sie mit musischen Mitteln reflektiert: die Freiheit. Doch auch die Freiheit der Kunst ist eine künstliche; über den Durchbruch eines Künstlers, ja sogar über die Chance, sein Schaffen andern mitzuteilen und publik zu machen, entscheiden zuerst Begutachter und Lektoren, Kritiker und Aussteller, Veranstalter und Verlage. Sogar öffentliche Stellen mischen sich ein, indem sie mit ihrer Stipendien- und Förderungsvergabe ganz gezielt und nach eigenem Gutdünken aussieben. Nur wer diesen Spießrutenlauf lebendig übersteht, erreicht die nächste Bewährungsstufe, nämlich den Markt und die Konsumenten. Natürlich kommt es immer darauf an, welche Wünsche mit der gelebten und erlebten Freiheit verbunden werden. Ist ein Autor zufrieden, wenn er einen Verlag gefunden hat, der bereit ist, auch unter widrigen Umständen seine Bücher zu veröffentlichen, so genießt er wohl einen leichteren Zugang zur künstlerischen Freiheit als ein anderer, in dessen Erwartung sich unter einem Verkaufsabsatz in Millionenhöhe gar nichts abspielt. Die unbestreitbar in irgendeiner Form zugestandene künstlerische Freiheit der Maler, Bildhauer, Komponisten, Filmemacher, Schauspieler und Schriftsteller macht nicht frei von Marktgegebenheiten, ganz im Gegenteil, sie scheint von diesen massiv bedrängt und stirbt in vielen Fällen an hierarchischen Realitäten oder an der Allmacht wirtschaftlicher Erfordernisse. Allzu oft wird nämlich vergessen, dass ein Künstler, so sehr er auch die Freiheit und die Herausforderungen der Ästhetik lieben mag, ganz banale menschliche Bedürfnisse hat und selbstverständlich isst, trinkt und schläft (und sonst noch ein paar Dinge mehr tut).

Je länger ich diesen Begriff, den ich seit jeher für anrüchig hielt, untersuche, desto nachgiebiger wird seine Festigkeit. Bis vor kurzem noch klare Umrisse verschwimmen zu einem abstrakten Kaleidoskop, das zwar nett anzuschauen ist, aber statt der Antworten neue Fragen liefert. Für die einen mag diese schwer ergründbare Freiheit ja eine kulturelle Errungenschaft sein und für die andern ein natürlicher Trieb, doch da der menschlichen Gesellschaft die Freiheit keineswegs in den Schoß gelegt wird, ist Arbeit an ihr unerlässlich. Hier wird etwas von Menschenhand geschaffen, ebenso wie ein Kunstwerk, allerdings etwas, das nicht so greifbar ist wie eine Skulptur, sondern mehr an ein sublimes Konzept gemahnt, dessen verschiedenartige Facetten in unserem Kopf herumspuken und quasi periodisch gar un-menschliche Glanzleistungen hervorbringen. Freiheit, wie wir sie landläufig verstehen, funktioniert nur dann, wenn wir uns alle im Klaren sind, dass wir es keineswegs mit der großen, mit der einen und einzigen Freiheit zu tun haben, sondern dass es eine Vielzahl von kleinen und dafür sehr genau umrissenen Freiheiten gibt, welche in unterschiedlichen Kulturen und von unterschiedlichen Individuen in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und realisiert werden. Freiheiten sind austauschbar, sie können korrigiert und erweitert, reduziert und zurückgenommen werden. Ähnlich wie in der Wissenschaft muss die Gesellschaft bereit sein, Freiheiten periodisch zu überdenken, mit neuem Sinn auszustatten oder zu verwerfen.

Das Licht der Freiheit mag flackern, mit neuem Elan aufleuchten oder vollständig verlöschen, der Ausflug in die Sphäre des freien Gedankens bringt mich jedenfalls zum Anfang zurück: Ist die einzige Kunst der Freiheit doch die Fabulierkunst? Blieb uns noch etwas anderes als die Freude am Fabulieren, die Wonne der hartnäckig über die Jahrhunderte gereiften Einbildung vom Freisein, gedichtet im prasselnden Wortfeuer unermüdlicher Denker? Nun, ich denke, diese Frage zu verneinen oder zu bejahen steht uns völlig frei.

(in: Lichtungen, Graz 2007)