Die Reisende
Dezent klimperte der Schlüssel in die Jackentasche. Vorbei, endlich vorbei, dachte ich: Ein Tag voller Telefonate und eiliger Erledigungen, deren Notwendigkeit immer erst in letzter Minute aufpoppte, eingezwängt in widersprüchliche Verantwortungen und gespickt mit belanglosen, aber häufigen Ärgernissen über die Anlaufprobleme mit der neuen Breitbandverkabelung war zu Ende.
Erleichtert wandte ich mich zum Gehen und überlegte, ob ich mit etwas Beeilung den früheren Bus erreichen konnte, doch dann stutzte ich. Bedächtig verlagerte ich das Gewicht von einem Bein auf das andere und danach wieder zurück, wankte wie in einem Zeitlupendreh hin und her, ohne mich für eine bestimmte Aktion zu entscheiden. Verunsichert neigte ich den Kopf zur Tür, ohne diese zu berühren, und schloss die Augen, wie ich immer tat, wenn ich mich auf etwas konzentrierte. Das Zimmer war leer gewesen und ich hatte alles gründlich geprüft, die Beleuchtung der Schreibtische, den Drucker, bei dem es darauf ankam, die Scanvorrichtung zu deaktivieren, weil sie dazu tendierte, sich über Nacht unmäßig zu erhitzen; das Fenster war geschlossen und sogar die Monitore der Kollegen hatte ich ausgeschaltet. Da gab es nichts Ungewohntes zu entdecken, und doch glaubte ich nun Geräusche zu hören, die auf keinen Fall von der Straße stammten. War mir tatsächlich etwas entgangen? Die tägliche Routine konnte einem schon einen Streich spielen und über sonst Wichtiges hinwegsehen lassen, allerdings wähnte ich mich dagegen einigermaßen immun. Hatte ich etwa einen Kollegen eingesperrt? Unsinn, die waren alle bereits fort und jeder Eingesperrte würde mir längst giftige Flüche durch die geschlossene Tür zuschleudern. Einbildung? Dazu hatten die Geräusche viel zu echt geklungen. Ergo: lieber nachsehen; vielleicht hing es ja mit dem Computer zusammen, den ich nicht abgeschaltet hatte, möglicherweise lief im Hintergrund irgendein Programm, das erst jetzt Töne über die beiden neuen Aktivboxen ausspuckte.
Also den Schlüssel wieder aus der Tasche herauszupfen; das nervte ungemein! Ich hasste es, etwas im Büro zu vergessen und dann noch einmal zurückkehren zu müssen, ebenso wie ich es nicht leiden konnte, Schlösser x-mal auf- und zuzusperren. Ich öffnete die Tür, trat ein und drehte das Licht an. Freilich fand ich das Büro exakt so vor, wie ich es verlassen hatte: die Jalousien heruntergelassen, alle Schreibtischlampen ausgeknipst, den dunklen Kaffeefleck auf dem Teppich, den mein lieber Kollege erst gestern hinterlassen hatte, den Kopierer abgedreht und die Lämpchen des Computers grün leuchtend, da ich ihn aus Bequemlichkeit nächtens durchlaufen ließ. Schon wollte ich umkehren, als eine Bewegung aus der Druckerecke, die trotz der Beleuchtung immer im Halbdunkel lag, meine Aufmerksamkeit erregte. Völlig überrascht stellte ich fest, dass dort, auf dem Schemel, den ich zumeist als Papierablage nutzte, eine junge Frau saß, die mir, dessen war ich ganz sicher, noch in keinem der Büros über den Weg gelaufen war.
Wohl wissend, dass ich sie erst jetzt bemerkt hatte, hob sie die Hand und winkte ansatzweise, wobei ein Ausdruck von Verlegenheit über ihre Gesichtszüge huschte. Was sie hier mache, fragte ich brüsk, und ob sie für die Firma tätig sei, weil wir uns nämlich noch nie begegnet waren. Sie verzog einen Augenblick den Mund, hob das Kinn und verneinte wortlos. Das heißt, wandte sie ein, eigentlich handle es sich ja um zwei unterschiedliche Fragen, die ich ihr gestellt hätte, aber zumindest die zweite könne sie wirklich guten Gewissens mit Nein beantworten.
Nach einem kurzen Schweigen, das die Szenerie in eine unwirkliche, beinah beklemmende Atmosphäre tauchte, zuckte ich mit den Schultern und wiederholte meine Frage nach dem Zweck ihres Hierseins. Die Frau winkte ab und murmelte, dies sei eine lange Geschichte und ich habe wohl kaum Lust, ihr die ganze Nacht über zuzuhören, noch dazu, wo sie die Erfahrung gemacht hätte, dass ihr sowieso nicht geglaubt werde, wenn sie tatsächlich mit der Wahrheit herausrückte.
Ich wusste nicht recht, wie ich auf ihre Abwehr reagieren sollte, empfand aber auch leisen Spott in ihrer Stimme und überlegte, ob ich mir ein späteres Heimkommen erlauben konnte, bevor ich ihr zunickte, die Tür hinter mir schloss und sagte, dass mich die Wahrheit nicht schrecke und ich im Gegensatz zu ihrer Vermutung sehr wohl daran interessiert sei, wie sie ihre für mich überraschende Anwesenheit begründete. Immerhin, merkte ich an, war ich überzeugt gewesen, ein menschenleeres Zimmer abzuschließen.
Sie nickte und bot mir Platz an, woraufhin ich mich auf meinen eigenen Bürostuhl setzte und gar nicht erst überlegte, warum mir ihre Geste deplatziert vorkam. Ich hätte schon recht, begann sie, denn das Zimmer sei tatsächlich leer gewesen, als es abgesperrt wurde, und meine Regung, gegen den Widersinn ihrer Worte zu protestieren, stoppte sie mit einer abwehrenden Handbewegung. Sie selbst sei nämlich erst danach angekommen, sozusagen während der letzten Umdrehung meines Schlüssels, die sie eben noch vernommen hatte. Natürlich gab es keine Intention, mich noch einmal zurückzuholen, und überhaupt lag es nicht in ihrem Interesse, jemanden nach aufreibenden Bürostunden am Heimgehen zu hindern, doch trotz Ihres ruhigen Verhaltens waren gewisse verräterische Geräusche, die mich letzten Endes auch hergelockt hatten, unvermeidlich gewesen, weil sie im Dunkel des Zimmers über einen Papierstoß Fehldrucke gestolpert war, den ich, wie mir einfiel, achtlos auf dem Boden gelassen hatte. Dort lag er nun flächig zerstreut.
Normalerweise interessierten sie ja die großen Konzerne, deren Zentralen rund um den Globus saßen, und mit etwas Fingerspitzengefühl war es ein Leichtes, genau dorthin zu gelangen, wohin sie es wünschte. Die kleinen Firmen standen sich aber dazwischen, quasi auf dem Weg, und manchmal hatte sie durchaus Spaß daran, diese nicht einfach zu ignorieren, sondern ihnen einen überraschenden Besuch abzustatten, um zu erfahren, wie die kleinen Leute am Wegrand lebten. Einen Augenblick hielt sie inne, sah mich an und begann zu schmunzeln, vermutlich wegen meines Gesichtsausdrucks, einer gewiss unzweifelhaften Bestätigung dessen, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie sprach.
Nun ja, meinte sie, während alle Welt vom Internet redete und jeder wisse, wie großartig und weitläufig dieses planetare Netzwerk bereits in die kleinsten Haushalte und ländlichsten Orte vordrang, überlegte selten jemand, auf welch fantastische Weise die technologischen Möglichkeiten genutzt werden konnten, um nicht nur den viel zitierten geistigen, sondern auch einen völlig handfesten materiellen Horizont zu erweitern. So beliebt das Reisen auch war, so hartnäckig blieben Ideen, den elektronischen Datenfluss als modernes Transportmittel einzusetzen, im Verborgenen. Sie strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, atmete tief ein und meinte, auch ich hätte sicherlich noch keinen Gedanken an eine Abzweigung ins elektronengestützte Straßennetz verschwendet.
Zwar regte sich ein gewisser Widerspruch in mir, doch wagte ich kein Wort entgegenzusetzen, denn ihr Vertrauen darauf, recht zu behalten, war angebracht. Stumm lauschte ich, wie sie von jenen Tagen erzählte, an denen der Gedanke, das Surfen im Internet wörtlich zu nehmen, heranreifte. Vom Gedanken zur Tat war nur wenig Zeit geflossen, sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, wie rasch die Begrenzungen ihres Zimmers, in dem sich ihr Notebook befunden, abgestreift wurden. Jedenfalls gedieh ihre ursprünglich arglose Inspiration zu einem grandiosen Abenteuer, das sie beinah schon als ihren eigentlichen Lebensinhalt betitelte, zumal sie mit Vorliebe verlautbarte: Was andere Frauen an den Beinen trugen, trüge sie im Herzen.
Ganz anders als ihr bisheriges Leben fühlte sich das Reisen im Datenstrom an, den sie als Äquivalent der elektronischen Weltbevölkerung bezeichnete. Besonders lustig fand sie die Burschen, die sich täglich von den PCs der Schule aus einschleusten und mit ihren Brettern an den höchsten Wällen entlangsurften, um Öffnungen zu entdecken, von denen aus sie die Netze der bekannten Spielehersteller durchforschten. Allein vom Zusehen werde man hungrig, meinte sie, unterbrach sich plötzlich und sog hörbar die Luft in die Nase. Einen Augenblick vermeinte ich zu sehen, wie sie mit der Zungenspitze über die Oberlippe strich, als sie tief seufzte, ohne mich dabei anzusehen.
Mit einem Mal etwas verlegen, dass ich ihr noch nicht einmal zu Trinken angeboten hatte, räusperte ich mich und fragte, ob sie etwa Hunger hätte. Sie musterte mich und nickte bedächtig. Nun überlegte ich, denn eine Küche gab es in unserem Büro nicht und wir hatten keine Essensvorräte, derer ich mich hätte bedienen können. Allerdings, warf ich ein, besaß ich eine Schublade voller Schnitten, Schokoladen und anderer kleiner Leckereien, mit denen ich mir meinen Arbeitstag zu versüßen pflegte. Wenn sie wolle, könne sie gern davon haben, wobei ich ihr mit Freude Gesellschaft leisten würde. Lediglich bei den Getränken sähe es bescheiden aus, denn alles, was ich ihr bieten konnte, bestand aus einem riesigen Kunststoffkanister frischen Quellwassers, das die Firmenleitung eigens aus den Alpen herbringen ließ, um keinen Mitarbeiter auf dem Trockenen sitzen zu lassen. Der Gedanke, dass die Frau vor mir, aus dem Internet stammend, mehr aus Halbleitern und Elektronen als Fleisch und Blut bestehen könnte, blitzte nur sehr kurz auf, denn bei jedem meiner Worte schien sie vehementer zu nicken und ich ließ keine Sekunde mehr verstreichen, bevor ich die Lade öffnete und herausräumte, was mir für die abendliche Szenerie opportun erschien.
In den ersten Minuten sprach sie kein Wort, sondern kaute Schokoriegel, Cremeschnitten und Karamellbonbons, strich mit den Fingern jedes Schokoladepapier völlig glatt, bevor sie es Kante auf Kante über das vorige legte und den nächsten Leckerbissen aus meinem Angebot herausklaubte. Eine dunkle Haarsträhne war über ihr Gesicht gefallen, hing über das rechte Auge bis über den Mund und zeigte, in einer krausen Kurve endend, auf das Grübchen zwischen Unterlippe und Kinn. Sie schien mir buchstäblich ausgehungert und zudem hatte ich den Eindruck, sie wäre es gewohnt, Süßigkeiten als Nahrungsersatz zu sich zu nehmen. Während sie eine der Haselnussstangen aß, von denen ich jederzeit größere Mengen in meinem Schreibtisch lagerte, weil sie großartig schmeckten, langgezogene Rollen aus Oblaten, gefüllt mit Haselnussmasse und zur Gänze in zarte Bitterschokolade getränkt, spielte sie mit der Hand an ihrem linken Ohrläppchen, an dem ich zwar eine winzige Lochung für Ohrringe, aber keinen Schmuck erkennen konnte. Im Grunde, meinte sie schmatzend, sei es ja eine Art Ersatzhandlung, denn sie könne nicht leugnen, dass sie auf ihren Reisen durch die globale Vernetzung auf gewisse Annehmlichkeiten des Lebens verzichten musste. Als sie ein größeres Stück Schokolade hinunterschluckte, nickte sie nachdrücklich, tippte mit dem Zeigerfinger auf eine Packung Zitronenschnitten im Kokosmantel und sagte, sie könne sich beim besten Willen nicht entsinnen, jemals etwas derart Deliziöses in irgendeinem Winkel des sonst mit jeglichen Gedankensprüngen überbordenden Netzwerkes angetroffen zu haben. Erst jetzt fiel mir auf, wie grazil ihre Finger und die Rundungen ihrer Nägel waren, ihre Handgelenke die lose sitzenden Ärmel dirigierten und der bläuliche Stoff ohne zu knittern zu einem etwas überdimensionierten Kragen zusammenlief; mit verstohlenem Blick suchte ich ihren Brustansatz, der unscheinbar zwischen den halb geschlossenen Knöpfen ihrer Bluse hervorlugte und mir augenblicklich eine gewisse Mühe beim Atmen bescherte. Für die plötzliche Schwüle machte ich den feinen Duft ihres Parfums verantwortlich, der sich ganz unbemerkt im Raum verbreitet hatte. Mit einer zustimmenden Handbewegung lenkte ich von meinen in freche Wachträume hinübergleitenden Gedanken ab, schluckte nervös und fragte, ob sie nicht noch ein wenig Wasser wünsche. Sie lehnte mit einem sanften Kopfschütteln ab, das ihr dunkles, im Schein der Schreibtischlampe matt glänzendes Haar lockig durcheinanderwirbelte.
Wie eigentlich der Anfang aussah, der Beginn einer solchen Reise, fragte ich nun, da ich mir bisher keine Gedanken über die Verbindung gemacht hatte, die zwischen ihr als Person und den miniaturisierten Verdrahtungen und jedes Übertragungsmedium nutzenden Datenpaketen bestehen musste, damit sie auch tatsächlich verwirklichte, was sie erzählte. Lediglich mit dem Kopf auf das Computergehäuse deutend meinte sie, es sei eigentlich ganz leicht. Jedes offene Laufwerk und die ganze Palette verfügbarer Schnittstellen seien nützlich, von Diskettenstationen und CD-Laufwerken über LAN-Anschlüsse hin zu USB-Schnittstellen, da mache es keinen Unterschied, ob man nur einen Speicherstick anschließe oder gleich den großen Sprung in die Welt der Bits vollziehe. Etwas verwundert beugte ich mich vor, um zu prüfen, ob irgendwelche Kratzspuren oder andere Beschädigungen am Diskettenlaufwerk oder an den USB-Buchsen zu entdecken waren, als sie meine Intention bemerkte und hell auflachte. Keine Angst, erklärte sie mit samtiger Stimme, sie passe immer gut auf, da sie keine Lust hatte, die Komponenten jener, die sie besuchte, zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören. Überdies wisse sie, dass nur das einwandfrei funktionsfähige Interface als fehlerlos arbeitendes Tor zu verwenden war. Völlig einleuchtend, gab ich ihr recht und verfing mich mit den Blicken zusehends an ihrem Halsansatz, während ich darüber staunte, wie fein die Linien ihres Körpers im sonst so harschen Licht der Zimmerbeleuchtung standen. Völlig undenkbar, dahinter Dioden zu vermuten, Leiterbahnen oder winzige Transistoren, deren unendliche Verkettung die glatte Linie eines Haars formten. Den Geruch von Schokoladebananen hatte ich in der Nase, während ich mir vorstellte, wie ich mit meiner Wange sehnsüchtig ihren Hals entlangglitt und den Duft ihrer Haut langsam und mit geschlossenen Augen einsog, so, als gäbe es im ganzen Universum nichts, was ich lieber röche.
Oh, es ist spät geworden, riss sie mich aus meiner Vision, legte das letzte Stück Schokoladepapier auf den bereits beachtlich angewachsenen Stoß und stand auf. Es läge ihr fern, meine Zeit noch länger in Anspruch nehmen, immerhin hätte ich ein Anrecht auf einen ruhigen Feierabend und sie wolle niemals Ursache versäumter Vergnügungen sein. Perplex und völlig unfähig ihr mitzuteilen, dass ich mir kaum einen größeren Genuss vorzustellen vermochte, als auch nur eine einzige Minute mit ihr zusammen zu verbringen, erhob ich mich ebenfalls und fragte unbeholfen, was sie denn jetzt vorhätte, so spät in der Nacht. Ach, meinte sie, die Uhrzeit habe schon lange keine Bedeutung mehr für sie und, setzte sie verschmitzt hinzu, ich könne mir gewiss schon denken, auf welche Weise sie wieder von hier verschwinden würde. Darauf war ich in der Tat schon neugierig, doch als hätte sie meine Gedanken erraten, winkte sie ab und wies darauf hin, dass sie prinzipiell den Weg ins Netz immer nur alleine antrat und dabei auch kein Publikum zuließ. Damit wäre sie immer ausgezeichnet gefahren und sie wolle keinerlei Ausnahmen dulden. Achselzuckend fügte ich mich.
Sie bedankte sich mit einem Lächeln für die Bewirtung, die mir in diesem Moment völlig unbedeutend vorkam, warf mit einer Kopfbewegung ein paar Haarsträhnen über die Schulter und hob die Hand zum Abschiedsgruß, während ihr Blick sich mir so tief einprägte, dass ich vermeinte, plötzlich einen die Atmung erstickenden Schmerz in der Brust zu verspüren. Wortlos und geradezu überrumpelt wich ich vom Tisch, vermeinte fast, geschoben zu werden, tappte rückwärts aus dem Zimmer, öffnete und schloss die Tür überaus behutsam, als wollte ich ihre Abreisevorbereitung nicht stören. Automatisch steckte ich den Schlüssel ins Schloss und ich war mir nicht sicher, ob es aus Höflichkeit oder Dummheit geschah, dass ich mich wie versprochen aus allem heraushielt und den Schlüssel doppelt herumdrehte. Gleich darauf jedoch, nach einer Sekunde unerträglichen Wartens, in der mir eiskalter Schweiß aus allen Poren ausbrach, sperrte ich wieder auf, drückte die Klinke nieder und stieß so heftig gegen die Tür, dass sie gegen den dahinterstehenden Aktenschrank knallte.
Niemand befand sich im Zimmer, obwohl sich auf meinem Platz nach wie vor die sorgfältig übereinandergestapelten Schokoladeverpackungen türmten. Panikartig setzte ich mich zum Computer, rief die Anmeldemaske auf und tippte mein Passwort ein, um die Bildschirmsperre aufzuheben, irrte mich wiederholt und fluchte leise, bis ich endlich die gewohnte Arbeitsoberfläche vorfand und rasch meine Startwebseite lud, ohne eigentlich zu wissen, wonach ich forschte. Eine Suchmaschine nach der anderen holte ich in den Browser, stets im Bewusstsein, weder ein passendes Schlagwort noch irgendein anderes Suchkriterium zu kennen, das geeignet gewesen wäre, das vollständige Scheitern meiner Bemühungen abzuwenden. Kurioserweise dachte ich an ein Fischernetz, eines mit Gewichten, welche die Enden gemächlich aber bestimmt herabzogen, ich dachte an einen geschickten Wurf über den Computer und die Freude des Fischers, wenn er seinen Fang in den Kutter zog. Aber jedes Netz, wurde mir mit einem Mal klar, bestand aus Maschen, und so winzig diese auch geknüpft waren, blieb immer ein Weg zum Entweichen.
Mein Herzschlag beschleunigte, als ich die Hände von der Tastatur nahm, einen Augenblick überlegte und dann das DVD-Laufwerk öffnete. Weder zeigte der PC Spuren einer ungewöhnlichen Nutzung noch hatte ich an den Programmen Änderungen irgendwelcher Art feststellen können. Verunsichert sah ich mich im Raum um, hoffte, irgendwo ein offenes Fenster vorzufinden, um im letzten Moment hinzustürzen und ihr ein paar Worte nachzurufen, bevor sie endgültig hinter einer Hausecke verschwand, doch im Grunde war ich mir der Narrheit meines Ansinnens völlig bewusst.
Den Stuhl schob ich beim Aufstehen nach hinten, und ich versuchte mir ihre Worte präzise in Erinnerung zu rufen: Jedes offene Laufwerk und die ganze Palette verfügbarer Schnittstellen seien nützlich, jedes offene Laufwerk, und ich fühlte mich vielfach bestätigt, dass ich beim Kauf der neuen Hardware so sehr auf die Inkludierung guter DVD-Lesegeräte geachtet hatte. Obwohl mir jeder weitere Gedanke geradezu irrwitzig vorkam, schloss ich einen Moment lang die Augen und atmete ganz tief ein. Danach holte ich mit den Armen Schwung und sprang quasi aus dem Stand auf den herausstehenden Wagen des Laufwerks.
Au! Das Getöse war ein paar Sekunden später wieder verklungen, das ganze Gehäuse umgestürzt, der Wagen des DVD-Laufwerks natürlich abgebrochen und in irgendeine Ecke des Zimmers geflogen. Trotz der nach wie vor leuchtenden Lämpchen schien es mir irgendwie ruhiger. Der Bildschirm war offensichtlich ausgefallen und schließlich verstand ich, dass die Festplatte versagt hatte: Headcrash. Die Vorstellung des Lesekopfreibers machte mir klar, dass ich nur mehr jene Daten besaß, die ich in der Vorwoche auf Band gesichert hatte.
Der rechte Knöchel schmerzte, und ich zog das Hosenbein hoch. Hoffentlich war nichts gebrochen! Die Spitze eines kleinen Plastikteils steckte in der Haut. Ich zog sie heraus und warf das Teil achtlos auf den Teppich. Jede Energie, die noch in meinem Körper saß, verpuffte nun, was mir ein wachsendes Gefühl auszuufern drohender Leere vermittelte. Ich stand auf, rollte den Stuhl zum Tisch und setzte mich. Ein schaler Geschmack machte sich im Mund bemerkbar – ich hatte den ganzen Abend nichts gegessen. Zufällig berührte ich mit der Hand die leeren Schokoladefolien. Als ich begann, die oberste, die in einem fahlen Violett schimmerte, ganz langsam, ja beinah zärtlich, glatt zu streifen, erinnerte ich mich daran, wie ihre schlanken, zierlichen Finger desgleichen getan hatten. Allmählich begriff ich, dass sie mir nicht einmal eine elektronische Spur hinterlassen hatte, und jeder zukünftige Bericht über das inzwischen vergangene Gespräch, dachte ich, war bereits im Vorhinein als Fantasterei abgetan, während ich für das zerbrochene DVD-Laufwerk und die ruinierte Festplatte dringend eine gute Ausrede benötigte. Nicht ohne eine gewisse Resignation lehnte ich mich zurück.
Wenn ich die Augen zukniff, fühlte ich ihre Anwesenheit, hörte ihren Atem und ihr helles Lachen, roch den verlorenen Duft ihres Parfums und sah ihr Gesicht ganz dicht vor mir; da beschloss ich, um es möglichst lange nicht aus dem Gedächtnis zu verlieren, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.
(in: Lose, 2007 und 2019)