Fünfzig

Es ist der fünfzigste Geburtstag des Erzählers. Ein Geburtstag, den er sich so nicht vorgestellt hat, den er sich, genau genommen, überhaupt nicht vorgestellt hat, denn eigentlich findet er, dass es gar nichts zu feiern gäbe. Aber eben dieser – vielleicht einzige – Wunsch wird ihm prompt nicht erfüllt, denn seine Frau, Angritt, hat schon alles organisiert, Freunde und Familie zur großen Feier ins gemeinsame »Lieblingsgasthaus« eingeladen, und dem Erzähler bleibt wohl gar keine andere Wahl als … nun, wenn da seine Eingeweide nicht verrückt spielten, so wenige Stunden vor dem grandiosen Festschmaus. Und was eignet sich jetzt besser zur seelischen Vorbereitung, als einmal übergründlich in sich zu gehen und die gesamte bisherige Lebensgeschichte Revue passieren zu lassen, bevor ein völlig neuer Abschnitt beginnt? Denn die Fünfzig markiert wohl einen Wendepunkt, so viel ist klar …

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Fünfzig, Roman

Fünfzig. Eine runde Zahl, die ich ständig vor mich hinsage. Es ist schon absurd; und das Wort – fünfzig – bleibt stets vage. Auch auf Papier: eine Fünf und eine Null. Dabei sage ich immer: Ich bin ein Null. Allein der Gedanke, dass es heute so weit ist, jagt mir einen Schauer über den Rücken … niemand hat mich gefragt, ob ich so weit bin, ob ich für diese Zahl bereit bin, die im Grunde bloß eine Nummer ist. Sie lähmt meine Sinne, und das degradiert mich zu einer Lach­nummer. Und wen kümmerts? (Niemanden. Außer … mich selbst.) Morgens wollte ich weder aus dem Bett noch etwas essen, doch ich empfand eine Genugtuung darüber, dass Angritt vor mir aufgestanden war und alles Notwendige erledigt hatte (was immer sie für notwendig hält). Alle Glieder fühlten sich so schwer an, als müsste ich mich gegen einen unsicht­baren Widerstand zur Wehr setzen. Nur nicht hoch­kommen, nur nicht hinaus, nur nichts Vernünftiges anfangen. Ich bekämpfte eine körperliche Regung, obwohl mir klar war, dass ich mit einem mentalen Hemmnis rang. Kurz nach Mittag soll es losgehen. (Puh, das ist sehr bald!) Dabei hatte ich schon vor Monaten gebeten, von einer Feier Abstand zu nehmen – fehlt mir doch jede Idee, was ich feiern soll oder was die Familie und meine Freunde mit mir zu feiern hätten. Mein Wunsch, was sage ich: meine Forderung wurde ignoriert, und Angritt legte sich gewaltig ins Zeug, alle einzuladen, den Tagesablauf präzise festzulegen, die Stube in unserem Lieblingsgasthof zu reservieren, kurzum, alles zu organisieren und es dann auf ihre Art perfekt zu inszenieren. Selbstredend eigentlich. Wenn sie etwas anpackt, dann macht sie keine halben Sachen. Ursprünglich hätte es ja eine Überraschung werden sollen, doch wie könnte der eigene Geburtstag jemanden überraschen? Jene vielleicht, die mit einer Uhr nichts anzufangen wissen, die ihre Tage völlig unbedarft genießen, sich kaum umblicken oder zur Seite schauen und dermaßen konzentriert ihrem Weg folgen, dass Einschnitte wie runde Jubiläen an ihnen vorbeiziehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen oder gar Schrammen zu ver­ursachen. Der Einschnitt; ja, von dem höre ich so oft, aber vielleicht liegt das nur daran, dass mir tatsächlich vorkommt, etwas würde zerschnitten: abgetrennt von allem, was bisher war und Bedeutung hatte. Journalisten, Kolumnisten, Ratgeber; die ganze Gesellschaft spielt auf den neuen Lebensabschnitt an. Lebensabschnitt … ein grässliches Wort. Man muss sich damit abfinden, nur mehr Lebensabschnittspartner zu sein. Eine Herabwürdigung ist das, und wen wunderts, wenn einer im Hinterkopf die Uhr nicht nur ticken, sondern so laut pochen hört, dass sich über kurz oder lang Panik breitmacht. Eine ziemlich lange Vorbereitung für diesen Tag. Ja. Vorbereitung indes für die andern und nicht für mich. (Oder? Ist doch so …) Angritt meinte, ich hätte mich von Beginn an nicht so sperren, mich dagegen verwehren sollen, womit sie aller­dings nicht bedachte, dass mein Widerwille keineswegs ein Spiel oder eine Show ist, wie sie es mir vorwirft, sondern mehr ein Reflex, eine Antwort auf etwas, das ich zugegebenermaßen noch nicht kenne, dem ich aber gern auswiche, weil mich seine Sprödigkeit schaudern lässt. (Uhhh …) Die große Zahl, die Fünfzig, hat etwas Absolutes und gleichzeitig Niederschmetterndes. (Abgeschlossen, was ich offenhalten mochte, abgeschlossen und abgedroschen.) Die Fünfzig verlangt nach einer Begutachtung dessen, was war und was somit – heute – zu einem Ende kommt. (Nabelschau?) Kein goldenes Jubiläum, denn Jubiläum kommt vom Jubilieren, vom Jauchzen, und dazu sehe ich wirklich keinen Grund. Oder soll ich, da meine Eingeweide sich seit dem Erwachen gegen alles wehren, was ich mit ruhiger Überlegung angehen möchte, eine Kerze anzünden (am besten eine Friedhofskerze), mich auf den Küchentisch hieven und ein paar Verse von Morgenstern rezitieren? Am besten laut, sie hinausschreiend, damit auch die Nachbarn etwas davon haben und ihre Meinung bestätigt wissen, dass ich lauter Narreteien im Kopf hätte? (Eine Nabelschau. Definitiv.) Als Angritt zum ersten Mal ihre Idee vorbrachte, reagierte ich mit Ablehnung und gab ihr mit brüsker Vehemenz zu verstehen, dass ich nichts zu feiern hätte und deshalb auch nicht auf irgendwelche Festivitäten festgenagelt werden möchte. Was ich denn hätte, fragte sie mich und rief patzig, ich wäre beileibe nicht der Einzige, der älter würde. (Eh klar; ich hatte sie verstimmt.) Irgendwann erwähnte sie dann die Midlife-Crisis – als hätte sie das eben in einer Illustrierten beim Frisör gelesen (passt eigentlich gar nicht zu ihr) – und dass Männer dann komplett zum Spinnen anfingen. … Alles Quatsch. Oder soll ich mir jetzt ein knallrotes Sakko kaufen, wie es mein Vater tat, als er fünfzig wurde, bloß um allen zu zeigen: Ich bin hier, und ich will noch etwas haben vom Leben!? Mit dem Kauf eines Motorrads spekulierte er, buchte Urlaub in Fernost und führte seine inzwischen langjährige Lebensgefährtin zum Standesamt … aber sein ganzer Lebensstil, der Arbeitsstress, Unmengen von Zigaretten und das qualitativ mäßige, lieblos zusammengewürfelte Essen, eher notdürftige Grundernährung als Genuss (als wir, meine Schwestern und ich, einmal eingeladen waren, wunderten wir uns über die Fertigprodukte, die auf den Tisch kamen, und lachten über das volle Glas Salatmarinade, die er nach Gutdünken, jedoch ohne brauch­bare Intuition zusammengemischt hatte), das alles machte seiner Intention, dem Leben einen erfrischten Sinn zu geben, den Garaus: Mit sechsundfünfzig war er tot. Darmkrebs. (Mir wird gleich wieder übel, speiübel – gibt’s noch eine Steigerung?) … Das rote Jackett sah ich zum letzten Mal, als seine Witwe (seine zweite Ehefrau), zu der ich nie eine Nahbeziehung hatte, die zurückbleibende Kleidung und die Lesebrille in einen großen Karton packte. Ein einziger Karton und darin die Reste eines ganzen Lebens, denn die paar Bücher, die er besaß, waren kaum der Rede wert. (Durch­atmen.) Die Brille hatte er uns anlässlich eines gemeinsamen Ausflugs prä­sentiert, mit sichtlichem Über­schwang aus der Brusttasche gezogen und erklärt, dass er sie ab sofort brauche, um weiterhin Zeitungsartikel, Briefe und die geschäftlichen Schrift­stücke lesen zu können. Das wirkte skurril, denn wir hatten ihn nie zuvor mit Augengläsern gesehen. Er wusste um diese Skurrilität, und ich bin sicher, er genoss diesen Moment ebenso wie unsere Verwunderung. (Wir waren auf irgend­einem Berghof zur Jause.) Ich erinnere mich gut an diesen Tag; mein Vater war knapp über vierzig, also etwa in dem Alter, in dem auch mir das Lesen beschwer­lich wurde und ich um einen Termin bei der Augenärztin ansuchte. Als ich dann meine eigene Lesebrille daheim auf den Tisch legte, eher verschämt als erleichtert, rief Angritt mir schmunzelnd den Ausflug mit meinem Vater ins Gedächtnis, von dem ich ihr mehrmals erzählt hatte. Midlife-Crisis. Löst eine Brille sie aus? Wohl kaum. Aber sie ist ein Steinchen in einem Mosaik, dessen Formen erst dann Gestalt annehmen, wenn man ausreichend Abstand hält.

(…)


Rezensionen

Am Morgen wacht der Erzähler auf wie der Käfer in der Verwandlung von Franz Kafka und stellt fest, dass sein Körper fünfzig Jahresringe hat. Heute sollen Geburtstagsfeiern losgehen, aber der Held ist wie gelähmt von seinem eigenen Leben und bleibt regungslos liegen, während sein Gehirn fünfzig Jahre abarbeitet.

Klaus Ebner findet einen makabren Zugang, ein halbes Jahrhundert »Eigenleben« als historisches Gesellschaftsgemälde gespiegelt im kleinen Einzelkopf originär darzustellen. (…)

Die Geburtstagsgedanken nehmen zwar im Bett ihren Ausgang, doch dann »spielen« sie vor allem auf dem Klo, wohin sich der Jubilar wegen seiner Verdauungsprobleme flüchten muss. Dahinter steckt die Überlegung, dass Gehirn und Bauch ja miteinander korrespondieren und eine Reflexion folglich von beiden Hemisphären abgearbeitet werden muss, soll es zu einer ausgewogenen Erinnerung kommen.

Außerdem ist der Toilettenbereich längst wieder zum idealen Kommunikationsknoten geworden wie in früheren Kulturen, laufen doch Handy, Verdauungslesebuch und Zeitung als Wischpapier in der Hand des sanitär abgeschotteten Menschen zusammen.

Der Gedankenfaden läuft in ungezügelter Peristaltik ab, oft sind es Assoziationen, die sich scheinbar unlogisch aneinanderschmiegen wie Jahre, die meistens ungeordnet aneinander andocken, ehe sie ab und zu als runde Zahl oder Jubiläum aufblinken. (…)

Als die drei Hauptstränge beten sich wie bei vielen »Autobiographien« die Stränge Familie, Ausbildung, Arbeit an, wobei naturgemäß alle Bereiche ausgedacht sind. Autobiographie könnte man bei Klaus Ebner als »ausgeklügelte Beschreibung« übersetzen.

Die vorgestellten Fakten klingen freilich überzeugend und erfüllen die Aufgabe jeder Lebensbeschreibung: Der Held muss eine Geschichte abliefern, die für ihn selbst glaubhaft ist und die ihm so das eigene Schicksal erträglich macht. (…)

Quasi als Festgäste zum Geburtstag treten dann noch ein paar lebensentscheidende Personen in den Erinnerungsstrom ein. Der Rennfahrer, der ständig zwischen Leben und Tod unterwegs ist, der Freund Witte, der als Katalanisch-Spezialist in mehreren Sprachen zu Hause, aber als Autor auf Kleinverlage angewiesen ist. Beides sind radikale Lebensformen. (…)

Klaus Ebner gelingt es frivol und kühn, aus dem Bauch heraus ein intellektuelles Gedankengebäude aufzutischen und die Geschichte glaublich zu halten. Als Erzählmethode eignet sich »Fünfzig« bestens, den jeweiligen Zeitgeist mit der individuellen Ausformung des Erlebten zu verschmelzen.

Helmuth Schönauer
2. Juni 2024. Publiziert in Lesen in Tirol

 


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Covergestaltung

Die Buchdecke wurde von Klaus Ebner unter Verwendung eines Bildes von Matheus Math (Matheus Goncalves/BR) auf Pixabay gestaltet.