Physikstunde

Die Erzählungen der Physikstunde wurden bereits 1985 als Taschenbuch erstveröffentlicht und gehören somit zum Frühwerk des Autors. Die Texte dieser gebundenen Neuausgabe sind behutsam korrigiert und an die aktuelle Rechtschreibung angepasst. Eine weitere Geschichte, die in den 1980er Jahren entstand, wurde ebenfalls aufgenommen. Das Buch ist gebunden, als Taschenbuch und als E-Book erhältlich.

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BuchcoverDas Wiedersehen

Unübersehbare Menschenmengen wälzten sich aus den Gewölben der U-Bahn und ebenso hinein. Menschen, die zur Arbeit (oder zum/zur Geliebten) fuhren, Kinder, welche die Mütter mitschleppten.

Stoßzeit. Statistiken pflegen eindrucksvoll darzustellen, was dem natürlichen menschlichen Empfinden doch unverständlich bliebe.

Zur Arbeit musste er nun nicht mehr, denn nach langen Jahren des Fleißes erhielt er seine Rente ausbezahlt, wohlverdienterweise, wie er meinte. Nur an den Umstand, dass er des Morgens weiterschlafen durfte, wollte und konnte er sich nicht gewöhnen.

Daher befand sich Ulrich inmitten der vielen Arbeiter, um auf die U-Bahn zu warten. Die Gewohnheit zwang ihn dazu. Jeden Tag fuhr er denselben Weg, den er während seines Arbeitslebens zurückgelegt hatte. Dieselben Stationen, die gleichen Leute.

Vielleicht, glaubte er, ließen sich damit noch ein paar Jahre des Lebens zurückgewinnen; er hing unerschütterlich an dieser Vorstellung.

Er stieg ein, er stieg aus, wie damals, vor vierzig Jahren, vor zehn Jahren, vor zwei Monaten. Er stieg aus und bemerkte plötzlich, dass ihm die Station unbekannt war.

Ein Irrtum! Zeigte die Untätigkeit infolge seiner Pensionierung bereits Folgen? Folgen, die zu verhindern er nicht imstande war? Unachtsamkeit wäre im Berufsleben völlig undenkbar gewesen.

Augenblicklich wollte er umkehren und wieder in den Waggon steigen, als ihm ein Mann auffiel, dessen Augen sehr jung und etwas unruhig dreinblickten. Der Mann schien älter als Ulrich, erheblich älter, doch er glaubte ihn zu kennen, womöglich sehr gut zu kennen – nun, er war sich sogar sicher, völlig sicher, dass er diesen Mann von irgendwoher kannte.

Nicht, dass er auf ihn zuhielte, um ihn zu begrüßen, keineswegs; er blieb stehen und schaute ihn an: den unbekannten Bekannten.

Normalerweise, dachte er, wusste er sich seiner Erinnerung doch zu bedienen, aber heute schien alles taub und kalt. Ulrich spürte genau, dass dieser Mann ihm einmal vertraut gewesen war. Doch ihm fielen nur Begriffe mit W ein (Wo? Wann? Wer? Wie? Wodurch?).

Unbeirrt von den Nachdrängenden musterte er den alten Mann, der einen abgetragenen und stellenweise abgewetzten Mantel, alte und doch blank geputzte Schuhe, einen Nadelstreifanzug (nicht eben im modernsten Schnitt) und eine Krawatte trug. Er hatte weißes, schütteres Haar, dessen Ansatz bereits hoch über die Stirn geklettert war. Die beginnende Glatze wähnte er anscheinend dadurch zu verstecken, dass er die wenigen Haare lang wachsen ließ und über die freie Stelle frisierte.

Dem Mann standen viele Falten im Gesicht, sein rechter Mundwinkel zuckte bisweilen in einer eigenartigen Nervosität, und die vergilbten Zähne gaben Zahnlücken frei. Die (jungen) Augen sahen jedoch munter drein, und gleichzeitig vermittelten sie Furcht.

Ulrich bemerkte, dass dem Unbekannten, der ihm so bekannt vorkam, das linke Ohrläppchen fehlte. Die hässliche Narbe an seiner Stelle wirkte befremdlich, denn er kannte sie nicht, wohl aber den Mann selbst, wenngleich ihn nun ein Gefühl der Unsicherheit beschlich.

Hatte er ihn während des Arbeitslebens kennengelernt? Oder war diese Bekanntschaft rein privater Natur gewesen? Eine Freundschaft vielleicht! Wie weit musste ihre Vertrautheit zurückliegen, wenn er nicht einmal so einfache Fragen zu beantworten wusste.

Ein Name hätte Ulrich gewiss weitergeholfen, denn er besaß die Gabe, Namen mit dazugehörigen Ereignissen blitzschnell in Verbindung zu bringen. Oh ja, er konnte auf ihn zugehen, um nachzufragen, um seine Vermutung zu bestätigen. Aber ein dumpfes Gefühl hielt ihn zurück, er wagte nicht, auch nur eine Regung in diese Richtung zu unternehmen.

Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt und wandte sich der U-Bahn zu, als Ulrich plötzlich laut »Isaac!« rief und benommen taumelte. An den Nebenstehenden versuchte er sich festzuhalten, spürte jedoch nur die Leiber indifferenter Arbeiter. Geöffnet war sein Mund und nachdenklich.

Der alte Mann war abrupt stehen geblieben. Langsam drehte er sich Ulrich zu. Für einen Augenblick verrieten die Augen Freude, doch dann wurde diese von menschlicher Distanz ausgelöscht.

Die Lippen des Alten schienen ein Wort zu formen, das Ulrich für seinen eigenen Namen hielt. Gleich darauf schien das Antlitz jedoch undurchdringlich, wächsern, versteinert. Isaac ging weiter, stieg in den U-Bahn-Waggon, stellte sich zur Tür und blickte Ulrich stumpf an.

Natürlich hätte Ulrich noch zusteigen können, doch das Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab. Sein älterer Freund hatte den Finger über die Lippen gelegt.

Ein hässliches Geräusch und die U-Bahn schloss die Türen. Durch die Glasscheibe starrte ein altes Gesicht. Mit der rechten Hand wies ihm Isaac, sofort in den hinteren Raum zu gehen. Er nahm die Einkaufstasche, die Ulrich gebracht hatte, und versteckte sie im Kühlschrank.

Schwarze Stiefel mochten nicht gern warten, und Ulrich wusste, dass die Eltern zu Recht Angst hatten. Sein Freund war nicht bei allen beliebt, und nur er hielt sich oft in seiner Wohnung auf. Die Neugier, das Interesse aneinander, das alles band sie zusammen, trotz des Altersunterschieds. Es klopfte.

Mit niedriger Geschwindigkeit fuhr die Garnitur los. Ulrich schaute auf das Gesicht, das ihn unentwegt musterte. Schweigend. Eilig begab er sich ins Nebenzimmer und stellte sich zum Fenster. (Danzig war sonnig. Einige, inzwischen selten gewordene, Singvögel machten sich bemerkbar. Der Reichsadler war ein Raubvogel.)

Nun fiel Ulrich wieder ein, was er über Isaacs Eltern wusste. In der Reichskristallnacht hatte man sie abgeholt. Isaac war indessen bei einem Freund gewesen, das hatte ihn gerettet. Seit diesem Tag weigerte sich Isaac, den gelben Stern zu tragen. Er hatte ihn verbrannt und war in das Haus gezogen, in dem auch Ulrich lebte. Und jetzt klopfte es an der Tür.

Als Isaac öffnete, wurden Stimmen hörbar, Schritte auf dem Parkett, und Isaac wurde gefragt, ob er der sei, für den er sich ausgab.

Zwei der Männer durchsuchten die Wohnung, fanden Ulrich und nahmen ihn ins Vorzimmer mit, wo sie ihn unwirsch nach seiner Identität fragten. Er händigte den Männern seinen Personalausweis aus (die Eltern hatten ihn angehalten, diesen immer bei sich zu tragen).

Einer der Ledermäntel legte Isaac Handschellen an und schlug ihm zweimal ins Gesicht. Jedes Mal, wenn Isaac eine Antwort gab, die den Männern offenbar nicht gefiel, klatschte eine Ohrfeige. Manchmal auch zwischendurch. Sie zwangen Isaac, dem Offizier in die Augen zu sehen und ihm zu sagen, woher er Ulrich kannte.

Isaac zögerte. Dann meinte er, er hätte ihn auf der Straße angesprochen, um Näheres über den Russlandfeldzug zu erfahren. Ulrichs Vater befände sich nämlich zurzeit an der Ostfront, deshalb hätte er angenommen, sein Sohn wüsste etwas, aber er hätte sich wohl getäuscht.

Eine Frage an Ulrich. Er zögerte, zierte sich zu sprechen, vernahm jedoch im Geist die Worte seines Vaters. Ulrich nickte. Mit erstickter Stimme bestätigte er die Angaben. Sein Vater hätte Briefe geschrieben, deshalb ...

Isaac versicherte, sein Judentum vor Ulrich verborgen zu haben. Die Tatsache, dass sich nirgendwo ein Stern fand, unterstrich dies.

Ulrich war erst dreizehn Jahre alt. Der Offizier gab ein Zeichen und ließ ihn hinausführen. Er solle verschwinden.

Ulrich verharrte still auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bis Isaacs Wohnung von den Männern durchsucht und er selbst mit einem Auto fortgeschafft war. Dann ging Ulrich wieder ins Haus, das auch das seine war.

Furchtsam horchte er auf jedes Geräusch, auf jeden Schritt. Noch bevor er anklopfte, wurde die Tür geöffnet und die Mutter zog ihn am Arm in die Wohnung. Leise machte sie zu und bugsierte ihren Sohn ins Wohnzimmer.

Ulrich bemerkte, dass die Menschenmenge auf dem Bahnsteig immer stärker anschwoll. Die U-Bahn hatte die Haltestelle schon lange verlassen; nicht einmal aus der Tunnelröhre war noch etwas zu hören. Ruckartig wandte er sich der Rolltreppe zu, die nach oben führte, und verließ nachdenklich die Station, die er nicht kannte.


Rezensionen

Wenn man nicht wüsste, was aus dem jungen Mann von einst geworden ist, der hier vor 35 Jahren mit leichter Hand und erstaunlich reif kurze Erzählungen schrieb, man würde ihm eine Zukunft als Schriftsteller voraussagen. Nun, nach vielen Veröffentlichungen macht er dieses Jugendwerk zugänglich, das es damals in nur wenigen Exemplaren als Kopierdruck gab. (...)

Der »Lancelot« der Artussage – hier ist er mit seiner angebeteten Königin allein im leeren Raum, nackt. Sie wünscht sich ein Haus, das Haus wird zu klein, zuletzt kommt man in ein Schloss, und rundherum sind Gäste, alles, was Rang und Namen hat. Doch sie finden zurück in die Umarmung, und »außer ihnen war nichts« – ein sehr schöner Text! (...)

Diese Talentprobe von einst hat es verdient, nun in schöner Gestaltung nochmals den Lesern zugänglich gemacht zu werden, und wir wünschen ihr eine freundliche Aufnahme.

Elfriede Bruckmeier
Österreichischer Schriftstellerverband, Wien Nov. 2020
Vollständige Online-Rezension


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Covergestaltung

Die Buchdecke wurde von Klaus Ebner unter Verwendung eines Fotos von Hans Braxmeier auf Pixabay gestaltet.