Lose

Dieses Buch enthält fünfundvierzig Kurzgeschichten.

Das Buch ist gebunden, als Taschenbuch sowie als E-Buch erhältlich.

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BuchcoverDas Pendel

Obwohl die Beamten von der Flächenwidmung eindringlich davor gewarnt hatten – weil nämlich der Untergrund nirgendwo auf Granit ruhte, sondern neben dem in der ganzen Gegend bekannten Rotschiefer aus reichen Ablagerungen von Sandstein und zusammengepresstem Geröll bestünde –, lief das Gerücht, er scherte sich einen Dreck um die Einwän-de der Behörden und baute das Haus exakt nach den Plänen, die er dem Bürgermeister schon vor zehn Jahren vorgelegt hatte, um freilich nur Spott und Gelächter zu ernten. Diesmal beabsichtigte er es zu Ende zu bringen, und er pfiffe auf die Unterstützung durch seine Nachbarn, denn er hätte viel zu lange zugewartet und sich mit fadenscheinigen Ausflüchten hinhalten lassen. Ich beschleunigte meinen Schritt, denn die Vehemenz, die ich aus den Erzählungen der Leute zu hören glaubte, ließ mich eine gewisse Bitterkeit vermuten, die Hingis zu voreiligen Entscheidungen treiben konnte. Wir kannten uns seit der Schulzeit, da hatte alles mit einer eingeschworenen Gruppe mehrerer Freunde angefangen, welche die Jahre des Erwachsenwerdens gemeinsam zu ertragen gedachten, doch als Hingis seine Leidenschaft für Pendeluhren entdeckte, immer mehr im Aufstöbern alter Uhrwerke aufging und von nichts anderem mehr sprach als von Spannklinken und Ankerrädern sowie den Bewegungen der Schwingmasse und der Ausdauer von hölzernen und metallenen Pendeln, was ihm bald den Spitznamen der Pendler eingebracht hatte, wandte sich einer nach dem andern von ihm ab. Schlussendlich war ich als Einziger sein Freund geblieben, der seine Passion zwar nicht gerade teilte, aber doch mit einer heimlichen Bewunderung beäugte. Die Buben aus der Nachbarschaft sprachen ihn nur mehr an, wenn etwa eine Armbanduhr stehen geblieben war oder eine Kuckucksuhr nicht mehr Kuckuck schrie, wann sie sollte; dann standen sie vor seiner Tür, verbissen sich den Spitznamen mitunter so heftig auf der Lippe, dass diese ganz frische Blutspuren aufwies, und baten Hingis, doch einmal einen Blick auf ihr Kleinod zu werfen, um es wieder zum Ticken zu bringen, wofür er wahrlich goldene Finger besaß. Sogar als das Uhrwerk des Kirchturms seinen Dienst versagte, hatten sie ihn um Hilfe gebeten, und zwei Tage später wusste jeder im Ort, dass Hingis der Kommune eine Menge Geld erspart hatte, das zur Anschaffung einer neuen Mechanik hätte aufgebracht werden müssen. Doch je entschiedener mein Freund sich seinem Spleen ergab, desto scheeler sah meine Großmutter mich an und forderte zuerst verhohlen und dann immer unverblümter von mir, den Kontakt zu diesem absonderlichen Jungen abzubrechen, um nicht selbst Schaden zu erleiden und mir den kaum ausgegorenen Entwurf meines eigenen Lebens unbedacht zu zerreißen; indes spielte mir der Zufall in die Hände, als die alte, reich verzierte Taschenuhr mit den schnörkeligen Ziffern, die meine Großmutter von ihren Ahnln höchstpersönlich in Empfang genommen hatte, wie sie nicht müde wurde, meinen Eltern und mir zu erzählen, als nun eben diese Taschenuhr, die so grässlich knackte, wenn man ihren Deckel öffnete, von einem Moment auf den anderen kurz gluckste, um schließlich alle Zeiger reglos von sich zu strecken. Bevor die Oma aus ihrem Schreck erwachte, um meiner in diesem Augenblick schon offensichtlichen Eingebung zu widersprechen, schnappte ich die alte Punzel und brachte sie zu Hingis hinüber, der sich sofort daran machte, die metallene Kapsel aufzuschrauben, ein paar Staubbällchen aus dem Federhaus herauszufischen und an ein paar Zahnrädchen und Stäbchen herumzudoktern, bis er ganz überraschend das Gehäuse wieder schloss und mir grinsend die nun regelmäßig tickende Uhr überreichte. Meine Großmutter war von dieser Notoperation dermaßen beeindruckt, dass sie sich ihrer Voreingenommenheit schämte und nie wieder versuchte, mir meinen Umgang zu verbieten oder einzuschränken, obwohl sie nach wie vor einen gewissen Argwohn gegenüber dem sich abzeichnenden Lebenswandel des Pendlers hegte.

Als ich den Hauptplatz überquerte, wo viele der Dorfbewohner herumstanden, plauderten und schräge Witze austauschten, sprach ich eine der Gruppen an, um mich nach Hingis zu erkundigen. Meine Frage, ob es ihm gut gehe und wo er sich derzeit aufhalte, quittierten sie mit Kopfschütteln und Fingerzeig. Die kolportierten Gerüchte hatten an diesem Nachmittag ihre Wirkung getan, doch wurde ich zumindest zu jenem Baugrund in der Nähe des Heimatmuseums geleitet, den Hingis mit dem von seinen Eltern vorzeitig aus dem Erbe ausbezahlten Geld erstanden hatte. Also keine Fehlwidmung und kein widerrechtlicher Kelleraushub, beruhigte ich mich, obschon allein die Tatsache, dass sein Bauvorhaben, dessen Ausmaß ich lediglich mit einem dumpfen, nichts Wonniges verheißenden Gefühl in der Magengrube erahnte, ausgesprochen geheimnisumwittert, klanglos und unerwartet in Gang gesetzt wurde, meine Gedanken dazu anspornte, über ihren eigenen Schatten zu springen und sich selbst zu überholen. Womöglich stand schon eine Wand oder eine ganze Ecke, aber je länger ich überlegte, desto mehr sprach für ein gleichzeitiges Hochziehen aller tragenden Mauern, denn Hingis hielt große Stücke auf systematisches Vorgehen und das beeinflusste wohl auch sein jetziges Handeln; indes, mit Bedacht auf die Neuheit der überbrachten Nachricht, gab ich ihm allenfalls einen angefangenen Aushub fürs Fundament. Abschließend bog ich um die Ecke und blieb abrupt stehen. Hingis hatte nicht nur das Grundstück in Besitz genommen, sondern bereits Vorarbeiten geleistet, deren weit gediehene Ausführung nicht einmal mit dem für ihn typi-schen Eifer zu erklären war. Der augenscheinliche Fortschritt in der Errichtung des geplanten Gebäudes erforderte gerade-zu logistische Brillanz, die ich trotz unserer Freundschaft in ihm weder vermutet noch vorausgesehen hatte. Die Hälfte des Rohbaus stand bereits, ein solides Gemäuer von stupender Dimensionierung, sozusagen eine gigantische Schale für das mit beträchtlicher Anstrengung entworfene und umzusetzende Innenleben, eine Ausgestaltung, die ihresgleichen suchte, denn der Pendler setzte alles daran, seinem Spitznamen unvergessliche Ehre zu machen und sich ein Denkmal zu errichten, das der Dorfgemeinschaft noch in Jahrzehnten wenn nicht Jahrhunderten in Form eines Wahrzeichens Ruhm einbrächte. Ich blickte mich einer zwar noch unvollendeten, aber bereits kolossalen Uhr gegenüber, einer Pendeluhr, deren Ziffernblatt bislang weder Beschriftung noch Zeiger besaß, doch über den wichtigen Funktionskern und ein riesiges Pendel verfügte. Allein die Bewegung des Perpendikels musste einen nicht unbeträchtlichen Zugwind und ein pfeifendes oder sirrendes Begleitgeräusch erzeugen, mutmaßte ich und bemerkte, dass Hingis, auf einem hohen Gerüst stationiert, eben daranging, die taktvolle Schwingung anzustoßen. Die Konstruktion schien er im Verborgenen vorbereitet zu haben, ohne mir das Geringste zu stecken, denn ich sah keine Möglichkeit, eine derartige Struktur innerhalb knapp bemessener Zeit anzufertigen, ja es kam einer regelrechten Schöpfung gleich, was mein Freund da offenbar im Alleingang gezimmert hatte. Während das Pendel vorerst mit Ächzen und Knirschen, dann aber in besonnener Ruhe und, als ob es sich um eine mechanische Kreatur handelte, mit quicklebendigem Entzücken die Spannweite seiner periodisch alternierenden Schwungkräfte auszuloten begann, gewahrte Hingis meine Anwesenheit und winkte mir. Er stieg vom Gerüst herunter, eilte auf mich zu und umarmte mich. Was ich davon hielte, fragte er mit unbändiger Freude in der Stimme und führte mich so nahe zu seinem Uhrgehäuse, dass ich die Reibung des Perpendikels in der Luft zu spüren vermeinte und das regelmäßige Vorbeisausen über dem Kopf meinen Blick einmal in die eine und dann in die andere Richtung zwang. Jedes Mal, wenn ich dem Ausschlag in den inzwischen rotblau gefärbten Abendhimmel nachschaute, beschlich mich das Gefühl, in unendliche Bedeutungslosigkeit abzusinken, und ich ertappte mich dabei, wie ich mich am Arm meines Freundes festklammerte, der schweigend vor sich hinlächelte. Plötzlich schüttelte er meinen Griff ab, trat einen Schritt vor und sprang mit einem Satz auf den eben vorbeifliegenden Schwungkörper des Pendels. Erschrocken wich ich zurück, stolperte und kam auf dem Schotter zu sitzen, von wo aus ich atemlos zusah, wie Hingis gleich einer Meerkatze mit ungeahnter Behändigkeit über die Oberfläche des Pendels kletterte, lachend die weniger rasante Mitte erklomm und zum Spaß mit den Fingern abwechselnd auf das Schlag- und das Ganggewicht klopfte. Ich wunderte mich, wie mühelos er das Gleichgewicht hielt, trotz des steten Schwingens seiner eigenen Wege ging und mit der Gewohnheit eines erfahrenen Kraxlers den Pendelstab umrundete, aufs kreisförmige Abschlussgewicht hüpfte und sich sogar auf den Rücken legte, um sich von der Uhr wiegen zu lassen und die Sterne zu beobachten, die allmählich im dunkelnden Firmament aufblitzten.

Und dann wandte er sich mir zu, streckte mir den Arm entgegen und ließ mich verstehen, dass er mich heraufholen wollte. Zwar schüttelte ich den Kopf, doch empfand ich den Reiz des Ansinnens, eine kecke Provokation, die mich versteckt anstupste, mir ein Kitzeln in den Nacken blies, das ich nicht loswurde, ohne zumindest aufzustehen und die riesige Pendeluhr daraufhin zu mustern, ob sie meine Gegenwart akzeptieren, meine Nähe ertragen würde, ohne mich angewidert abzubeuteln. Beim nächsten Durchschwingen packte mich Hingis an beiden Schultern und beförderte mein Gewicht mit einer Leichtigkeit hinauf, die mir richtiggehend hexenhaft vorkam. In panischer Furcht vor einem Absturz in die Tiefe spähte ich nach Halt, doch schließlich riss die Bewegung mich mit, was ich im ersten Moment erschreckend fand, doch als Hingis dann bedächtig den Zeigefinger über die Lippen legte und die Augen schloss, geriet ich zum ersten Mal an den Wendepunkt des Pendelausschlags, dorthin, wo der baumlange Stab für einen einzigen Wimpernschlag still im Raum verharrte, um im nächsten Moment die Richtung zu wechseln und hinabzusausen. Reflexartig krallte ich mich fest, doch als wir kurz später auf der anderen Seite zur Umkehr gelangten, spürte ich das Lächeln, das geradezu ungewollt von meiner Miene Besitz ergriff, und ich glaubte das Pochen meines Herzschlags zu hören, als Trägheit und Gewicht nicht weiterwussten und in punktueller Schwerelosigkeit einander die Hand reichten. Als wären wir noch die Kinder, die sich gerade erst angefreundet hatten, tollten wir eine Weile auf dem Gerät herum und ich dachte nicht mehr darüber nach, wie überhaupt die Haftung entstand, die uns vor einem gefährlichen Abrutschen bewahrte. Hingis eröffnete mir, dass er seit der Schulzeit von einer solch gewaltigen Uhr träumte und seine technischen Studien lediglich mit dem Ziel absolviert hatte, diesen Traum eines Tages zu verwirklichen. Nun erwog er, sein restliches Leben mit dem einzigartigen Perpendikel zu verbringen, gleich einer Ameise, die sich ebenfalls keine Sorgen um Schwerkraft und ähnliche Überflüssigkeiten machte. Er würde das Grundstück und das Ge-bäude dem Gemeindevorsteher überschreiben, damit der es für die Allgemeinheit öffne, und dafür nähme er lediglich das Recht in Anspruch, sein Dasein auf das Pendel zu verpflan-zen und alles, was er benötigte, Nahrung, Kleidung, Toiletteartikel, angeliefert zu bekommen. Auch einen Namen für die neue Attraktion der Ortschaft hätte er sich ausgedacht, das Haus zum Horolog gedachte er das Kunstwerk, so verlautbarte er, zu taufen. Und dann lud er mich ein, sein Glück mit ihm gemeinsam zu genießen und ebenso wie er das Uhrgehäuse zu bewohnen. Zur Mitteilung dieses Vorschlags wählte er die Stelle, wo die Schwingmasse ihren Schub ins Gegenteil verkehrte, eine Sekunde, die geprägt war von mittlerweile vertrauter Verstummung und Schwerelosigkeit, den Moment des Vergnügens, welches mich fast zustimmen ließ und das distanzierte Abwägen, wonach nur mehr ein letzter Zweifel gierte, gröblich erschwerte. Indes verstand Hingis mein Zögern. Behutsam brachte er mich daher auf den Boden zurück und nachdem ich ihm versprochen hatte, mich, natürlich unter seiner fachlichen Anleitung, um die Fertigstellung des Horologs zu kümmern, kehrte ich der Parzelle meinen Rücken und entschwand verwirrt und erleichtert in die Nacht und in meine Gedanken.


Rezensionen

Der erste Eindruck: Ein geschmackvoll gestaltetes Hardcover, am Deckel blaugraues Seewasser, im Vordergrund Schilfstängel, die Schriftgröße samt Zeilenabständen eine Wohltat und als Draufgabe ein Bändchen. (...)

Auch der »Antrag auf Patenschaft« hat mir sehr gut gefallen. Die Idee, dass sich die Rattenplage einer Stadt lösen lässt, wenn Bürgerinnen und Bürger Patenschaften für die Tiere übernehmen, ist theoretisch schließlich nicht von der Hand zu weisen. Wie der Politiker in der Geschichte seinen Antrag formuliert und begründet, muss man einfach gelesen haben. Wer bei so viel Überzeugungskraft noch Einwände hat, dem ist einfach nicht zu helfen. (...)

Ebners Texte bestechen durch ihre Originalität, die Vielfältigkeit und den großen Unterhaltungswert. Wer bereit ist, sich vom Autor den Blick auf Alltägliches ver-rücken zu lassen, wird Freude mit den Geschichten haben. Dass Ebners Sprache sehr gewählt ist und die Kurzgeschichten auch sehr sorgfältig lektoriert sind, steigert die Lesefreude zum Genuss.

Alles in allem: eine klare Leseempfehlung und ein gediegenes Geschenk, das durch die schon erwähnte ansprechende Gestaltung bei bibliophilen Mitmenschen bestimmt gut ankommt. (...)

Lisa Lercher
Literarisches Österreich 2020/01, Wien, S. 125 ff.
ISSN 2663-8940 – www.oesv.or.at


(...) aktuelle und gesellschaftlich relevante Problemkreise, (...) sehr stille, gleichsam implodierende Geschichten, aber auch Phantasmen, Ironie und Humor finden in diesen Erzählungen ihren Platz. Manche Geschichten erhalten ihre Intensität durch reflektierende Auseinandersetzung mit konkreten Problemlagen (z.B. der Konfrontation mit den alltäglichen Formen des Rassismus in Gesprächen, die mit dem Vater geführt werden), andere Geschichten spielen mit Metaphern, heben sich über die Realität hinaus, ohne über Gebühr abzuheben (...).

»Lose« ist ein perspektivisch vielseitiges Buch, ein extravagantes Mosaik, das Lebens(t)räume aller Art erkundet (...). Abgesteckte Szenarien, intelligente Inszenierungen, ein Treibhaus an Ideen und Befindlichkeiten werden seitens des Autors aufgegriffen, manchmal be- und verarbeitet wie Teig, der quillt und duftet oder sich jeder wohlmeinenden Interpretation verwehrt. (...)

Julia Rafael
Literarisches Österreich 2008/1, Wien


Bestellung

Das Buch (Neuausgabe 2020) ist im BoD-Buchshop, bei Amazon und in jeder Buchhandlung bestellbar.

(Das 2007 bei Edition Nove erschienene Buch ist vergriffen.)


Covergestaltung

Das Buchcover der Neuausgabe (BoD) wurde von Klaus Ebner unter Verwendung eines eigenen Fotos gestaltet.

(Das Buchcover der Erstausgabe wurde von Edition Nove unter Verwendung eines Fotos von Jan Gropp/PIXELIO gestaltet.)